Die Seilbahn bewegt sich langsam, aber stetig nach oben. Plötzlich reißt das Zugseil – kurze Panik, doch dann stoppt die Kabine wie von Geisterhand. Alles in Ordnung. Keiner ist zu Schaden gekommen. So soll es sein bei sogenannten Pendelbahnen, also Seilbahnen, bei denen eine Kabine nach oben und eine andere gleichzeitig nach unten führt.
Auch die Seilbahn zum Gipfel des Monte Mottarone am Lago Maggiore in Norditalien ist so eine Pendelbahn. Und eigentlich hätte das Unglück, das sich dort am Pfingstsonntag ereignet hat, gar nicht geschehen dürfen. Denn ein ausgeklügeltes Bremssystem hätte automatisch anspringen sollen. Doch offenbar kam es zu einem ungewöhnlichen Doppelversagen.
Eine Pendelbahn verfügt über zwei Seile. Am Tragseil hängt die Kabine, über Rollen gleitet sie an diesem hinauf oder hinab. Das Zugseil dagegen zieht die Kabine nach oben beziehungsweise bremst die gegenläufige Kabine auf ihrem Weg nach unten ab.
Am Sonntag nun hatte laut Augenzeugen die eine Kabine der Pendelbahn am Lago Maggiore fast die Bergstation am Monte Mottarone erreicht, als das Zugseil riss. Die Kabine rutschte daraufhin am Tragseil wieder talwärts, ungebremst, bis an einer Stütze die Rollen aus dem Tragseil sprangen und die Kabine in die Tiefe stürzte. 14 Menschen starben. Nur ein fünfjähriger Junge überlebte schwer verletzt den Absturz.
Noch sind die Ursachen für eines der größten Seilbahnunglücke Italiens unbekannt. Die Experten zur Unfallaufklärung müssen nun eine Technik untersuchen, die in den Alpen weit verbreitet ist – zur Jahrtausendwende gab es über 360 Pendelseilbahnen in Europa, die meisten davon in der Schweiz.
Die talabwärts fahrende Kabine wurde gestoppt
Diese Bahnen weisen aber eine besondere Sicherheitstechnik auf. Dazu gehört ein Notbremssystem, das erkennen muss, wenn das Zugseil reißt: Experten sprechen von der „Schlaffseilerkennung“ als Notfallauslöser. Bei einem Seilriss muss dieses in der Pendelbahn dann bei beiden Kabinen die Notbremsen aktivieren. Und das vor allem schnell, bevor zu viel Tempo aufgenommen wird.
Tatsächlich stoppte am Sonntag die talwärts fahrende Kabine am Lago Maggiore kurz vor der Mittelstation in Richtung See. Doch die andere raste ungebremst Richtung Tal, bis sie aus dem Tragseil sprang, weil die Geschwindigkeit zu groß war. Eigentlich hätte das nicht passieren dürfen.
Zumal noch am 1. Dezember genau dieser Notfall bei den beiden Kabinen der Seilbahn zum Gipfel des Monte Mottarone getestet wurde, in einer praktischen Simulation, also ohne tatsächlichen Seilriss, aber mit Aktivierung der Bremsen. Als am Pfingstsonntag dann tatsächlich das Zugseil während des Betriebs riss, funktionierte aber trotz Wartung und Vorabkontrolle offensichtlich das Notbremssystem doch nicht. Ein ungewöhnliches doppeltes Versagen mit schrecklichen Folgen.
Die Pendelbahn wurde vor rund 50 Jahren konstruiert, dann von 2014 bis 2016 vom führenden Südtiroler Seilbahnunternehmen Leitner grundlegend modernisiert. Sie ist fast 3000 Meter lang und verfügt über drei Stützen. Was sie von vielen modernen anderen Pendelbahnen unterscheidet: Sie hat nur ein Tragseil.
Das ist zwar zulässig – sonst wäre die Bahn ohnehin nicht in Betrieb. Italiens Seilbahnkontrollen gelten auch als zuverlässig, heißt es in der Branche. Inzwischen werden aber, ausgehend von der Schweiz, neue größere Kabinenbahnen immer häufiger mit zwei oder sogar noch mehr Tragseilen gebaut. Die erste Seilbahn in Italien mit Doppeltragseil war 1975 die Schnalstaler Gletscherbahn. Mehr Tragseile oder auch mehr Zugseile geben zusätzliche Sicherheit. Bei mehr Tragseilen sind auch mehr Notfallbremsen mit ihren Bremsbacken je Kabine möglich.
Allerdings ist auch klar: Die seit Jahrzehnten eingesetzten Tragseilbremsen verringern zwar das Absturzrisiko. Das geht auch aus einer 2005 im Auftrag des Bayerischen Wirtschafts- und Verkehrsministeriums erstellten Untersuchung unter Beteiligung der Universität Stuttgart und des TÜV Süd hervor. Sie müssen aber auch richtig dimensioniert sein.
Immer wieder geschehen tragische Unglücke
In der Untersuchung wird auf die besonderen Effekte und Kraftmomente von gerissenen Zugseilen bei Pendelbahnen, wie jetzt beim Unglück am Lago Maggiore, hingewiesen. Die Untersuchung bescheinigt den Seilbahnen einen insgesamt hohen Sicherheitsstandard. So werden darin gut 100 gefährliche Zwischenfälle seit dem Jahr 1908 mit Pendelbahnen aufgelistet. Dabei kam es zu 28 Zugseilrissen und 22 Kabinenabstürzen. Von 1980 bis 2002 gab es 76 Tote bei Pendelbahnen mit Zugseil.
Immer wieder kommt es daneben zu anderen tragischen Zwischenfällen. 2005 verlor beispielsweise ein Hubschrauber in Tirol einen Betonkübel, der ausgerechnet das Seil einer Seilbahn traf, woraufhin eine Gondel abstürzte. Neun Menschen starben. 1998 durchschnitt ein US-Marinejet in den Dolomiten bei einem unerlaubten Tiefflug das Seil einer Seilbahn, und die Kabine stürzte in die Tiefe. Alle 20 Insassen starben. Unvergessen ist auch das Brandunglück im November 2000 in einem Tunnel der Standseilbahn in Kaprun/Kitzsteinhorn, bei dem 155 Menschen ihre Leben verloren.
In den meisten Fällen handelt es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände. So verweist der Seilbahnhersteller Leitner darauf, dass noch in den Monaten vor dem Unglück am Lago Maggiore zahlreiche Wartungs- und Kontrolluntersuchungen durchgeführt wurden. Erst im November wurden bei der jährlichen Kontrolle auch die Seile untersucht. Bei dieser „magnetinduktiven Seilprüfung“ seien keine Unregelmäßigkeiten festgestellt worden, heißt es beim Unternehmen. Vereinfacht ausgedrückt wurde dabei über Magnetfeldmessungen nach möglichen Brüchen in den Seilen gesucht.
Das 1888 gegründete Unternehmen Leitner gehört zu den international führenden Seilbahnanbietern und ist weltweit tätig. Leitner gehört zur Unternehmensgruppe High Technology Industries (HIT), die auch Pistenfahrzeuge und Beschneiungsanlagen herstellt. 2019 lag der Umsatz bei 1,05 Milliarden Euro. Das Südtiroler Unternehmen Leitner liefert sich mit dem österreichisch-schweizerischen Unternehmen Doppelmayr-Garaventa auf den Weltmärkten einen Konkurrenzkampf um technisch anspruchsvolle Projekte. Doppelmayr bezeichnet sich dabei als Weltmarktführer im Seilbahnbereich.
Für Leitner wäre es daher ein erheblicher Imageschaden, sollte das Unternehmen eine Mitverantwortung an dem Unglück am Lago Maggiore treffen. Leitner hat bereits mitgeteilt, alles zu unternehmen, „um diese Tragödie so rasch wie möglich aufzuklären“. Zunächst ermittelt auch noch die Staatsanwaltschaft, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung.
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