1921 startete die NZZ mit Wissenschaftsjournalismus und dem Versuch, das zu beschreiben, was für die Leserinnen und Leser eigentlich unvorstellbar klingen musste: Atomkerne, Relativitätstheorie, Röntgenstrahlen.
Vor hundert Jahren erblickt das der Zukunft zugewandte Ressort «Technik» in der NZZ das Licht der Welt und erscheint wöchentlich auf 1½ eng bedruckten Seiten. Es sei ein «organisch in den Körper der Gesamtredaktion» eingegliedertes Ressort, heisst es damals stolz, das eine bereits seit den 1870er Jahren in mehreren Anläufen begonnene Tradition verstetige: Mit den «Polytechnischen Nachrichten», «Handel und Verkehr» und der Sonderbeilage einer «Technischen Rundschau» hatte die NZZ schon im 19. Jahrhundert eine erstaunliche Traditionslinie der Berichterstattung über relevante technische Errungenschaften der Zeit begonnen. Diese war aber zunächst immer wieder abgerissen.
Im Ressort Technik erscheinen 1921 ausführliche Berichte über die ingenieurwissenschaftlichen Meisterleistungen beim Ausbau der Wasserkräfte in der Schweiz oder über «Die Struktur der Materie nach den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft». Darin wird das sich gerade entwickelnde Atommodell auf der Höhe der damaligen Physik knapp erläutert und zugleich lyrisch verklärt. Das «Atom als Ganzes» mit dem Kern und den um ihn kreisenden Elektronen im fast leeren Raum enthülle sich in «wunderbarer Weise als ein Planetensystem im Kleinen, in dem die gleichen Gesetze zu herrschen scheinen wie in den kosmischen Bewegungen». Hier blitzt das auf, was Laien an der Wissenschaft stets auf Neue erstaunt: die Präzision der Vorhersagen, die die moderne Physik ermöglicht.
Es ist sicher kein Zufall, dass sich neben den klassischen Ressorts der Zeitungen der Journalismus über Wissenschaft zuerst in Gestalt eines Journalismus über Technik etablieren konnte. Bereits 1921 konnte jeder Laie mit eigenen Augen sehen, wie fundamental technische Anwendungen natur- und ingenieurwissenschaftlicher Entdeckungen die Welt in hohem Tempo verwandelten. Die Elektrifizierung der Eisenbahnen hielt Einzug in der Schweiz, die mächtigen Wirkungen unsichtbarer Röntgenstrahlen faszinierten und verstörten Zeitgenossen, Telegrafen revolutionierten die Welt der Kommunikation. In Werbeanzeigen in den Zeitungen wurden die Fertigkeiten von Maschinen des täglichen Gebrauchs gelobpreist.
Wer einen Blick auf die eng bedruckten Zeitungsseiten aus dem Jahr 1921 wirft, der merkt rasch, dass viele der Berichte aus der Welt der Wissenschaften einen aus heutiger Sicht erstaunlichen Zukunftsoptimismus atmen. Beispielsweise der Artikel über Diskussionen im Völkerbund, wonach die Kunstsprache «Esperanto als Diplomatensprache» zur Völkerverständigung statt der Alternative «Ido» zu empfehlen sei. Wie selbstverständlich geht der gelehrte Autor davon aus, dass sich diese sinnvolle Erfindung in der Diplomatie verbreiten werde – und liefert damit einen der unzähligen Berichte voller unverwirklichter Vorhersagen.
Was in keiner Ausgabe fehlt, sind kurze Meldungen aus der Welt der Entdeckungen. Oft sind es Geschichten zum Staunen. So etwa am 26. Oktober 1921 die Nachricht, dass in Florida erstmals menschliche Skelettreste aus der Eiszeit entdeckt worden seien, ein Hinweis auf die frühe Besiedelung Amerikas. Faszinierend sind auch «erste Berichte» über experimentell erzeugte Krebswucherungen in Tierversuchen sowie «irritierende Beobachtungen» bei Ärzten und Röntgentechnikern: 54 Fälle von «Röntgenkrebs» seien dokumentiert worden, und zwar stets an jenen Körperteilen, die «den Röntgenstrahlen ausgesetzt waren, also das Gesicht, der Rücken der Hände und Finger». Trotz allen Strahlenrisiken setzt der Autor zu der optimistischen These an, dass Ärzte die entarteten Krebszellen mit Röntgenstrahlen sicher bekämpfen lernen würden. Bis zur heutigen fraktionierten onkologischen Strahlentherapie von Tumoren sollten allerdings unzählige Patienten an den Folgen von voreiligen Experimenten mit unausgereiften Strahlenkanonen vorzeitig versterben.
Die oft beschriebene Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, also der Trend, dass wissenschaftliche Expertise in immer mehr Lebensbereichen handlungsrelevant wird, war schon vor hundert Jahren keine Überraschung mehr. Neuer war der gegenteilige Trend: die Vergesellschaftung der Wissenschaft. Die Wissensproduzenten mussten sich zunehmend legitimieren, weil sie tief gefühlte Überzeugungen der Menschen infrage stellten. So boten etwa die fürchterlichen Material- und Menschenschlachten des Ersten Weltkriegs und die Rolle der technischen Erfindungen reichlich Anschauungsmaterial für kritische Reflexionen, die sich in den Feuilletons der damaligen Zeit spiegeln.
Erstaunlich liest sich das Denkstück «Magie unter der Maske der Wissenschaft». Darin geht es dem Autor zunächst um die Neugier und die Experimentierlust der Naturwissenschafter. Diese seien letztlich ein «Kind der Magier» früher Zeiten, wo Zauberer, Fakire und Religionsführer ihr Publikum mit geheimem Wissen verführt hätten. Im Zeitalter der modernen Forschung bestehe nun allerdings die Gefahr, dass neue Magier mit der Maske der Wissenschaftlichkeit die Öffentlichkeit mit ihren technischen Tricks verführten. Das klingt fast schon wie Bertold Brecht, der unter dem Eindruck des Abwurfs der Atombombe und mitten im Rüstungswettlauf zur Wasserstoffbombe in seinem berühmten Drama den Gelehrten «Galileo Galilei» an einem «Geschlecht erfinderische Zwerge» verzweifeln lässt: «Wenn Wissenschafter, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein.»
Wissenschaftshistorisch interessant ist, dass die NZZ den Lesern am 16. Dezember 1921 allgemeinverständliche «Literatur zur Relativitätstheorie» Albert Einsteins vorstellt. Einstein hatte bereits 1919 mit seiner berühmten Vorhersage der Lichtablenkung von Sternen während einer Sonnenfinsternis einen internationalen Triumph seiner Relativitätstheorie erlebt. Über diese Vorhersage hatte das Feuilleton der NZZ in einem Artikel im November 1921 berichtet. Zum gleichen Zeitpunkt scheute sich das Nobelkomitee, Einstein den Nobelpreis für Physik trotz einer Vielzahl von Nominierungen zuzusprechen. Es verlieh 1921 nach heftigen Debatten kurzerhand keinen Nobelpreis für Physik. Offenbar hatte es im Nobelpreiskomitee heftige Kontroversen um die Person Albert Einstein gegeben. Es gab erhebliche Widerstände und Interventionen einflussreicher Vertreter der sogenannten «deutschen Physik», die die Aussagen der Relativitätstheorie und später auch die Quantenmechanik als zu wenig anschaulich und zu wenig intuitiv ablehnten.
Erst nach diplomatischen Hin und Her bekam Einstein 1922 den Nobelpreis für Physik 1921 rückwirkend zuerkannt. In einem faulen Kompromiss wurde aber beschlossen, den genialen Gelehrten nicht für seine bahnbrechende Relativitätstheorie zu ehren, sondern für die Erklärung des fotoelektrischen Effekts.
Das Verständlichmachen des Unverständlichen, des Unvorstellbaren und die nicht in Begriffen des Alltagsverstandes fassbaren Erkenntnisse der Wissenschaften fordern den Wissenschaftsjournalismus bis heute heraus: Wie viel Wissen aus den Wissenschaften kann und soll den Leserinnen und Lesern zugemutet werden? Und wie soll man mit dem menschlichen Bedürfnis nach dem Nicht-wissen-Wollen im konkreten Handeln umgehen, ohne sein Publikum zu verlieren? Auch die Frage des richtigen Erzählens über Wissenschaft mit Reichweite ist ein andauernder Forschungsprozess.
Mit dem Weltereignis Pandemie, mit dem eine ungeheure «Simplifizierung des Sozialen» (Rudolf Stichweh) unter der Losung «Leben retten» einherging, ist vielen klargeworden, wie sehr Wohl und Wehe von den Erkenntnissen und den Erfindungen der Wissenschaften abhängen, aber eben auch vom Verhalten aller.
1921 hatte sich die 1918 ausgebrochene und historisch bisher wohl verheerendste Pandemie allmählich in eine harmlose Grippe verwandelt, eine Endemie. Hundert Jahre später wollen manche Forschende nicht mehr ausschliessen, dass im chinesischen Wuhan das Sars-CoV-2-Virus aus einem Labor entwischt ist. Die Covid-19-Pandemie wäre dann die erste menschengemachte Seuche. Bereits wissenschaftliche Forschung, nicht erst ihre technische Anwendung kann also zum existenziellen Risiko für menschliche Gesellschaften werden.
Volker Stollorz ist einer der renommiertesten Wissenschaftsjournalisten in Deutschland. Er ist Geschäftsführer des Science Media Center Deutschland, im Jahr 2020 kürte ihn das «Medium Magazin» zum Wissenschaftsjournalisten des Jahres.
Artikel von & Weiterlesen ( Die Geburt des Ressorts «Technik» in der NZZ | NZZ - Neue Zürcher Zeitung - NZZ )https://ift.tt/2XXZDhs
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